Der letzte Sommerabend
„Was machen wir hier?“
„Wart‘s ab“, antwortete er und stieg aus dem Wagen. Aus dem Kofferraum holte er einen großen Korb, dann griff er nach ihrer Hand und sie liefen los.
Er schlug nicht den Weg nach rechts ein, wo die anderen Besucher hinströmten, die von der Terrasse des Remstalkinos aus den Sonnenuntergang beobachten wollten. Vom Parkplatz wendete er sich nach links und führte sein Date in die Weinberge. Zu einem Platz in der Nähe des Wasserhäusles, von dem sie genauso den Sonnenuntergang beobachten konnten wie von der überfüllten Terrasse. Aber allein.
Mit Schwung breitete er die Picknickdecke auf dem Boden aus und deutete mit einer Handbewegung an, dass sie sich setzen sollte. Es war ein heißer Sommertag und auf ihrer Haut hatte sich ein feuchter Film gebildet, der einen besonderen Glanz darüber legte. Er leckte sich über die Lippen, bevor er sich neben sie setzte und den Korb zu sich zog.
„Eine Flasche Wein, Käse, Brot, Musik, alles, was das Herz der Dame begehrt“, zählte er auf, während er die Zutaten zwischen ihnen ausbreitete.
„Wow, wie schön! Das hast du alles für mich getan?“ Sie lehnte sich in seine Richtung.
„Natürlich. Heute ist ein besonderer Tag und ich wollte dir den schönsten Sonnenuntergang bereiten, den du je gesehen hast.“
Aus der Boombox erklang sanfte Gitarrenmusik, während er den Rotwein öffnete und zwei Gläser füllte.
„Auf diese wunderbare Begegnung“, sagte er und hielt ihr eines hin. Es würde noch etwa eine Stunde dauern, bis die Sonne unterging. Alles lief nach Plan.
„Auf dich und diesen schönen Abend.“ Ihr breites Lächeln, das sich bis zu den Augen zog, ließ ein warmes Kribbeln in seinem Bauchraum entstehen. Sie war die Richtige, er war sich sicher. Schon ihr Profilbild und die Beschreibung hatten ihm ein gutes Gefühl gegeben und die letzten beiden Abende, die sie gemeinsam verbracht hatten, haben seinen Eindruck bestätigt. Beide waren sie allein. Oft einsam. Sie hatten keine Familie mehr. Keine Freunde.
„Erzähl mir ein Geheimnis“, flüsterte sie mit einer rauen Stimme, die eine Gänsehaut über seinen Rücken jagte. Er räusperte sich.
„Du raubst mir den Atem“, antworte er und ließ seine Augen für den Effekt über ihren Körper wandern. Zu seiner Freude legte sich eine rote Färbung über ihre Wangen. „Jetzt du.“
„Ok“ Sie holte tief Luft. „Ich glaube, ich wollte schon immer mal an einem öffentlichen Ort … Du weißt schon.“
Sein Schlucken war laut hörbar.
„Ich auch“, murmelte er. Die Decke raschelte, als ihr Oberkörper ihm noch näher kam. Das war er. Sein Moment.
Als ihre Lippen sich trafen, war kein Zweifel mehr in seinen Gedanken übrig. Der Kuss war warm, weich und intensivierte sich mit jeder Sekunde, die verstrich. Er legte seine Hände links und rechts auf ihre Schultern. Ließ sie sanft über die leicht feuchte Haut zueinander gleiten, bevor er zupackte. Es dauerte nur eine Sekunde, dann riss sie ihre Augen auf. Starrte in sein lächelndes Gesicht. Er verfestigte seinen Griff noch einmal. Zur Sicherheit. Er hatte den Moment perfekt abgepasst. Denn als sie ihren Mund öffnete, kam kein Ton heraus. Er hatte die Stimmbänder bereits so fest abgedrückt, dass kein Schrei mehr möglich war. Forsch legten sich ihre sonst zärtlichen Finger an seine Hände. Fast war er ein bisschen beleidigt ob der groben Berührung. Doch er konnte an ihren bläulichen Lippen sehen, dass der Sauerstoffgehalt in ihrem Blut bereits sank. Es würde nicht mehr lange dauern und das war auch gut so. Denn sein Unterarm begann zu krampfen. Gerade als er überlegte, ein bisschen lockerer zu lassen, spürte er, wie die Spannung ihre Muskulatur verließ. Sie sackte unter ihm zusammen, ihr Kopf fiel nach hinten. Jetzt nicht zu früh nachgeben. Er zählte von zehn rückwärts in seinem Kopf. Dann löste er mit einem erleichterten Seufzer seinen Griff.
Stolz betrachtete er sein Werk. Die Spuren am Hals waren klar zu sehen. Keine Verwackler, keine Ruckler. Man konnte die Übung erkennen. Er ermahnte sich selbst nicht zu lange zu warten, denn noch war es hell. Also zog er die analoge Kamera aus der Tasche und schoss seine Fotos. Als er genügend Material gesammelt hatte, nahm er das Brett aus dem Korb und holte darunter die Handschuhe, Babytücher und eine Schaufel heraus. Mit den Handschuhen an den Händen wischte er alles an ihr ab, was er berührt haben könnte. Insbesondere den Hals. Dann machte er sich ans Graben. Die Erde war von den Sommerwochen ausgetrocknet. Es dauerte länger, als er antizipiert hatte. Als es endlich geschafft war, hatte die Sonne sich schon gefährlich nah zum gegenüberliegenden Hügel bewegt. Er rief sich zur Eile. Mit dem Fuß schob er sie in das Loch, bevor er so schnell er konnte, die Erde wieder darauf schaufelte. Er trat alles fest und legte die Picknickdecke darüber. Gerade als die Sonne am Versinken war, nahm er Platz, griff zu seinem Weinglas und ließ den Blick zum Horizont schweifen. Der perfekte letzte Sommerabend.
Tagebucheintrag. Mit Fotos. Verfasst in dritter Person.
Beweisstück A-71, Mord an Unbekannt.